Lektion 29
Lange glaubte Ödipus - so hatte Periboia , die Gattin des Polybos , das Findelkind genannt -, er sei der Sohn des Königs. Eines Tages aber beschimpfte ihn einer von den Gleichaltrigen, der auf seine Stärke neidisch war, als 'Bastard' - und die anderen lachten. Sogleich befragte Ödipus Penboia nach seiner Herkunft. Da die Frau nichts Bestimmtes verriet, entschloss er sich, nach Delphi zu gehen, um das Orakel zu befragen. Auf seine Frage erhielt er folgende Antwort: 'Hüte dich davor, deinen Vater zu töten und deine Mutter zu heiraten.' Als Odipus diese Worte vernommen hatte, mied er in seiner Bestürzung Korinth und fuhr mit seinem Wagen nach Theben. In einem Hohlweg kam ihm ein alter Mann entgegen, der auf einem Wagen saß. Als dessen Sklaven riefen, er solle ihrem König den Weg frei machen, zögerte Ödipus ein wenig und siehe! Schon erschlug einer von Ihnen eines seiner Pferde! Wütend, weil das Pferd erschlagen worden war, tötete der junge Mann nicht nur den allzu rabiaten Sklaven sondern auch jenen Alten, ohne zu wissen, wer er war - es war aber Laios, sein eigener Vater! Als die Sonne unterging, erblickte Ödipus nicht weit von den Mauern ein seltsames Wesen, das auf einem Berg saß: die Sphinx, die den Kopf eines Mädchens und den Leib eines Löwen hatte. Diese gab gewöhnlich den Leuten, die nach Theben reisten, ein Rätsel auf. Lösten sie das Rätsel nicht, tötete sie sie grausam. Während Ödipus noch staunte, sagte die Sphinx: 'Welches Lebewesen hat am Morgen vier Beine, am Mittag zwei und am Abend drei?' - 'Der Mensch', erwiderte Ödipus. Als sie diese Lösung vernahm, stürzte sich die Sphinx von ihrem Felsen in die Tiefe. Ödipus aber wurde, weil er die Stadt von dem Ungeheuer befreit hatte, von den Thebanern zum König gemacht und nahm seine Mutter Iokaste zur Frau. Viele Jahre hatte er glücklich gelebt, als plötzlich die Thebaner von einer sehr schweren Seuche heimgesucht wurden. Da die Seher versicherten, die Stadt werde von den Göttern bestraft, weil ein schreckliches Verbrechen begangen worden sei, versprach König Ödipus, nach dem Schuldigen zu suchen. Und tatsächlich fand er ihn, nachdem er viele Menschen befragt hatte: sich selbst!
Lektion 30
Schon zu Lebzeiten des Ödipus hatten dessen Söhne Eteokles und Polyneikes miteinander gestritten, wem nach dem Tod des Vaters die Herrschaft zufallen sollte. Nachdem dieser sich, als seine Untaten entdeckt waren, des Augenblicks beraubt hatte, übertrug er die Herrschaft seinen Söhnen für jeweils ein Jahr. Dann floh er, geführt von seiner Tochter Antigone aus Theben. Als ein Jahr vergangen war, forderte Polyneikes die Herrschaft von seinen Bruder Eteokles. Der aber weigerte sich, den Thron zu räumen. Daher rief Polyneikes Verbündete zusammen, stellte ein großes Heer auf und zog mit sieben Heerführern nach Theben, um die Stadt mit Gewalt einzunehmen. In dieser Hoffnung getäuscht, maß er sich im Zweikampf mit Eteokles. Nachdem beide Brüder in diesem Kampf gefallen waren, wurde Kreon zum König ernannt. Der ließ Eteokles mit höchsten Ehren bestatten, den Leichnam des Polyneikes aber, weil er seine Heimat verraten hatte, den Vögeln und Hunden vorwerfen. Außerdem stellte er Wachen auf, denn er wollte verhindern, daß ihn jemand bei Nacht heimlich zu bestatten wagte. Antigone aber, die nach dem Tod ihres Vaters nach Theben zurückgekehrt war, versuchte, obwohl sie das Gebot des Königs kannte, trotzdem, den Bruder eigenhändig mit Erde zu bedecken. Während sie das tun wollte, wurde sie von den Leuten, die die Leiche bewachten, festgenommen und zum König geführt. Als Kreon fragte: 'Auf wessen Veranlassung hast du meine Weisung mißachtet?', erwiderte sie: 'Auf niemands Veranlassung, ich muß aber den Geboten der Götter mehr gehorchen als den deinen.' Kaum hatte er diese Worte wahrgenommen, da geriet Kreon in höchsten Zorn und ließ das Mädchen lebendig begraben, ohne daß einer seiner Untertanen sich widersetze, ohne daß einer es verhinderte. Haemon allein, der Sohn des Königs, öffnete das Grab und wollte Antigone retten - doch umsonst: Das Mädchen hatte schon selbst seinem Leben ein Ende gemacht. Da es tot war, suchte auch Haemon den Tod, und seine Mutter wurde, als sie vom Schicksal ihres Sohnes hörte, vom Schmerz dahingerafft. Kreon aber bedauerte, nachdem er alle seine Angehörigen durch eigene Schuld verloren hatte, zu spät seinen Starrsinn.
Lektion 31
Viele Jahre lang war jener Dionysios Tyrann von Syrakus, der eine Stadt von höchster Schönheit und ein überaus reiches Staatswesen unterdrückt hielt. Und doch schrieben zuverlässige Gewährsleute, derselbe Mann sei unvorstellbar energisch und von scharfem Verstand gewesen, aber doch auch bösartig von Natur und ungerecht. Da das so war, war er unweigerlich bedauernswert. Er traute nämlich keinem seiner Untertanen, sondern vertraute den Schutz seiner Person Sklaven an und wilden Barbaren, Menschen von höchster Verwegenheit. Da er auch die Rednerbühne nicht zu betreten wagte, sprach er gewöhnlich von einem hohen Turm aus zum Volk. Doch dieser Tyrann wußte selbst zu beurteilen, wie glücklich er war: Denn als ein gewisser Damokles im Gespräch seinen Wohlstand erwähnte und auch seine Schätze, seine Macht, den Glanz seiner Herrschaft und die Größe seines Palastes pries, sagte er: 'Willst du also, mein Damokles, da dir ja dies alles Freude macht, dasselbe Leben führen wie ich und mein Glück kennenlernen?' Und als Damokles versicherte, genau das wolle er, ließ er ihn auf eine goldene Liege legen. Dann befahl er, daß einige Knaben von ausnehmender Schönheit an den Tisch traten und Wein vom besten Geschmack und Speisen aufgetragen wurden, die viel gekostet hatten. Schon hielt sich Damokles für glücklich, als er plötzlich heftig erschrak: Von oben drohte ihm nämlich ein messerscharfes Schwert, und es war zu erkennen, daß eben dieses Schwert an einem Pferdehaar hing! Daher sah er weder jene hübschen Knaben mehr an noch das wunderbar gearbeitete Silbergeschirr, streckte auch die Hand nicht mehr nach dem Tisch aus, sondern bat nur noch darum, weggehen zu dürfen. 'Zur Genüge', sagte er, 'hast du mir, Tyrann , nämlich gezeigt, von welcher Art das Leben der Tyrannen ist. Deine Schätze und Reichtümer sind mir das nicht wert, daß ich ein derartiges Leben führen möchte.
Lektion 32
Wir haben einen Staat von solcher Art, daß wir nicht voll Neid auf die Gesetze anderer Städte schauen; vielmehr geben wir eher selbst manch einem ein Beispiel als daß wir uns an anderen ein Beispiel nehmen. Und mit Namen wird dies Demokratie genannt weil nicht von wenigen, sondern vom Volk alle Macht ausgeht. Gleiche Rechte haben alle Bürger, und niemand wird durch die Niedrigkeit seiner Herkunft behindert, wenn er nur in irgendeinem Bereich dem Staat nützen kann. Da wir in allen Dingen auf Freiheit bedacht sind, hüten wir uns davor, irgendjemands Worte und Taten argwöhnisch unter die Lupe zu nehmen, und sind auch niemandem böse, wenn er etwas nach Lust und Laune tut, falls es nicht irgendein Gesetz verbietet. Unsere Stadt steht allen offen, wir weisen keine Fremden aus und halten niemanden von irgendeiner Instruktion oder Vorführung fern, nicht einmal dann, wenn es wahrscheinlich ist, daß er von unseren Feinden geschickt wurde, um irgendwelche Dinge auszuspionieren. Ich weiß, daß bei bestimmten Völkern Griechenlands die Jungen streng erzogen werden, da man glaubt, daß auf diese Weise ihre Leistungsfähigkeit beträchtlich gesteigert werde. Wir aber sind nicht derselben Ansicht: Wir führen ein angenehmes Leben, wir lieben alles, was schön ist; trotzdem nehmen wir dieselben Gefahren auf uns wie andere: Ohne jede Furcht ziehen wir den Feinden entgegen und erringen meistens den Sieg über sie. Es wird sich aber, wenn jemand die Sache genauer ins Auge faßt, herausstellen, daß diejenigen seelisch gefestigter sind, die sowohl die Freuden wie die Schrecken des Daseins kennen und weder Kämpfen noch Gefahren aus dem Wege gehen. Darum, so glaube ich, kann niemand bezweifeln, daß diese Stadt unerschütterlich eher ist als alle anderen, zumal da ihr alle Meere alle Länder offenstehen. Aus diesem Grund werden wir die Bewunderung sowohl der Menschen unserer eigenen Epoche als auch der künftigen hervorrufen und wünschen uns keinen Dichter, nicht einmal Homer, als Lobredner.
Lektion 33
Ich will euch den Inhalt einer Komödie erzählen, wenn ihr mit Ruhe zuhören wollt. Aber wer nicht zuhören will, soll hinausgehen, damit Platz für jene ist, die zuhören wollen. Der Name dieser griechischen Komödie ist Alazon, lateinisch aber wollen wir, daß jener Mann 'Angeber' genannt wird. Ihr werdet einen Soldaten sehen, der jederzeit seine eigenen Vorzüge loben will, der nicht lieber tut als sich seiner eigenen Taten zu rühmen, auch wenn sie erfundene und falsche sind. Er sagte: 'Alle Frauen, die mich gesehen haben, wollen von keinem anderen geliebt werden als von mir, weil ich von vornehmer Gestalt bin und wegen der Menschlichkeit und Großzügigkeit und weil meine sehr mutigen Taten würdig sind meinen Vorfahren. Ich wollte, ich wäre weniger schön, damit ich nicht von so vielen Frauen gequält werde!' Dennoch scheint ihn keine Frau jemals geliebt zu haben: Alle, die er vorher mit Geschenken und Versprechungen einwickelte, wollten von ihm nicht geliebt werden. Und in Athen entführte er ein sehr schönes Mädchen, das nicht dorthin wollte, und versteckte sie im Haus. Ihr half ich, weil sie nichts lieber wollte als aus seinen Händen zu entfliehen. Schon ist der junge Mann da, den sie als einzigen liebt. Ihre Eltern sollen in Athen große Reichtümer besitzen, und wenn er nicht sparsam ist, werden wir das Mädchen sicher von diesem Tyrannen befreien, besonders weil der Wächter ein sehr dummer Mann zu sein scheint. Wir aber haben mit Hilfe eines alten Mannes einen listigen Hinterhalt vorbereitet. Wollt ihr mehr hören? Ich werde es gleich erzählen: Diesen Soldaten haben wir überredet - aber siehe da: Mein Herr sucht mich! Ich bin schon da Herr, ich höre dir schon zu! Was willst du, was wolltest du, o Zier dieses Jahrhunderts? (Im Weggehen zu den Zuschauern): Jetzt möchte ich, daß ihr freundlich zuhört!
Lektion 34
L: Hallo, Titus, was gibt's neues? Hast du heute auch den Carneadis gehört? T: Ich wünschte, daß ich ihn nicht gehört hätte! Ich bin nämlich völlig verwirrt, nachdem ich ihn gehört habe. L: Aus welchem Grund? Erzähle mir; denn ich werde nicht ruhig sein, bis ich nicht alles erfahren habe. T: Du scheinst wohl zu wissen, wie sehr dieser Caneadis durch den Ruf seiner Beredsamkeit, die Aufmerksamkeit aller auf sich gewendet hat. L: Gestern allerdings, während er über Gerechtigkeit diskutierte war Cato selbst anwesend. T: Er ist da gewesen und soll, sobald Carneadis die Rede beendet hat, ihn gelobt haben. L: Dies ist gewiß erstaunlich, den Cato scheint die Griechen zu hassen. T: Vielleicht sind sie ihm nicht verhaßt gewesen, bevor er Carneadis zum zweiten mal gehört hatte. Nun haßt er sie sicherlich, aber höre: Heute hat jener äußerst raffinierte Mensch wieder aufgehoben was auch immer er kurz zuvor erörtert hat, hatte er völlig umgestürzt. Er verneinte das dieses das Fundament aller Staaten sei, aber ganz im Gegenteil: Wer auch immer die Gerechtigkeit pflegt ist dumm. Welches Volk auch immer weit und breit geherrscht hat, hat sich seine Machtmittel durch viel Verbrechen und Untaten erworben. Als er dieses gesagt hatte schrieen alle auf, den Carneadis schien über das Reich des römischen Volkes zu diskutieren. Dieser aber sagte, nachdem Stille eingetreten war: Sicherlich ist es Gerechtigkeit keinen Menschen zu töten. Was wird also ein gerechter Mann machen, wenn ein an Kräften schwächerer eine Planke nimmt, nachdem sein Schiff gescheitert ist? Wird er ihn etwa nicht von der Planke vertrieben um sein eigenes Leben zu retten. Wenn er klug ist wird er es tun. Er selbst wird wahrscheinlich zu Grunde gehen, wenn er es nicht macht. Ich glaube, dass alle die ihr eigenes Leben nicht schonen, während sie die anderen schonen, zwar gerecht aber auch dumm sind. L: Welch ein Frevel! Ich kann mich kaum halten! T: Sei ruhig mein Freund: Dem Caneades werden diese verderblichen Worte bald leid tun, wenn er die Heimat, aus Rom vertrieben, aufsuchen wird.
Lektion 35
Protagoras trug als junger Mann Lasten, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Einst begegnete ihm, als er viele Holzscheite trug, die nur mit einem Stück Seil zusammengebunden waren, jener weltberühmte Philosoph Demokrit und sah voll Stauen wie der junge Mann obwohl er eine solche Last zu tragen hatte, unbeschwert daherging. 'Wohin', so fragte er, 'trägst du diese Scheite?' Und jener entgegnete: 'Ich trage sie nach Abdera, in die Stadt, um mein Leben zu fristen. Ich bin es gewöhnt, fast täglich Holz dorthin zu tragen.' 'Und wer hat diese Ladung so sachverständig zusammengestellt? Offensichtlich nämlich läßt sie sich von dir leicht tragen, obwohl sie unhandlich zu sein scheint.' - 'Ich habe sie selbst zusammengestellt, um sie leichter tragen zu können.' Darauf riet Demokrit dem Protagoras, seine Arbeit, auch wenn er es eilig habe, ein wenig aufzuschieben. 'Später', meinte er, 'wirst du deine Last lieber tragen. Nun aber berichte, wer du bist und was du treibst.' Nachdem Protagoras das alles vorgetragen hatte, bat ihn Demokrit, die Scheite, die er hergetragen hätte, auseinanderzunehmen und auf dieselbe Weise neu zu packen. Als er das gut erledigt hatte, meinte Demokrit: 'Hebe diese Scheite da nicht mehr auf! Trag sie nicht weg, wohin du sie tragen wolltest. Auch wenn niemand dich unterwiesen hat, besitzt du meiner Meinung nach eine einzigartige Begabung und derartigen Verstand, daß du zusammen mit mir viel Großes schaffen kannst.' So wurde Protagoras selbst von Demokrit weggebracht und erlernte die Philosophie. Ihm soll später von seinen Schülern eine unglaubliche Menge Geld geboten worden sein, weil er versprach, er könne sie lehren, wie sie in der Debatte die schwächere Sache zur stärkeren machen. Protagoras nämlich war zwar ein umstrittener Philosoph, aber der scharfsinnigste aller Sophisten.
Lektion 36
Es gab in Athen ein großes und geräumiges Haus, doch verrufen und lebensgefährlich. In der Stille der Nacht hörte man Klirren von Eisen und Schreie. Bald danach erschien mit trägem Schritt ein Gespenst, ein alter Mann mit schrecklichem Gesicht der mit den Händen Ketten schwang. Deshalb waren für die Leute, die dieses Haus bewohnten, die Nächte bedrückend und entsetzlich, denn jeder fürchtete um sich, viele konnten, wenn die Angst zunahm, keinen Schlaf mehr finden, und gerade den Schwächsten war der Tod sicher. Daraufhin wurde das Haus aufgegeben und ganz diesem Unwesen überlassen. Da kommt der Philosoph Athenodor nach Athen, hört von jenem Haus, fragt und wird über alles informiert. Um das Gespenst mit eigenen Augen zu sehen, bleibt er bei Nacht im vordersten Teil des Hauses und schreibt und liest. Am Anfang nächtliches Schweigen, dann klirrt Eisen, schleifen Ketten. Jener blickt nicht auf, legt den Griffel nicht weg. Danach nimmt das Geklirr zu, kommt näher, läßt sich schon wie auf der Schwelle, schon wie im Zimmer vernehmen. Endlich hebt Athenodor den Kopf und erblickt eben den Alten, von dem er kurz zuvor gehört hat und dessen schrecklichen Anblick er kennt. Der alte Mann stand da und gab mit dem Finger ein Zeichen, als wolle er ihn holen. Nichtsdestoweniger bedeutet ihm Athenodor durch eine Handbewegung, er solle ein wenig warten, und schreibt weiter. Jener klirrt über dem Kopf des Schreibenden mit seinen Ketten. Athenodor bemerkt, daß er dasselbe Zeichen wie vorher macht, erhebt sich und geht mit ihm in den Garten hinaus. Dort verläßt der Alte plötzlich seinen Begleiter. Der Verlassene legt bestimmte Kräuter auf dieselbe Stelle, wo die Erscheinung verschwand. Am folgenden Tag wendet sich Athenodor an die Behörden und beantragt, daß sie jenen Ort aufgraben lassen. Man findet die Leiche eines Menschen, der anscheinend vor vielen Jahren ermordet wurde! Allen schien es glaubhaft, daß es der Leichnam desselben Alten sei, der Athenodor erschienen war, und alle waren sich einig, daß, wenn der Tote nach Brauch bestattet sei, das Haus vom Spuk frei sein werde. Das kam auch so. An jenen heldenhaften Philosophen Athenodor aber erinnerten sich die Athener noch lange.
Lektion 37
Germanicus sendet den Legaten Caecina mit 40 römischen Kohorten durch das Land der Bructerer zum Fluß Ems, die Reiter führt der Praefekt Pedo; er selbst führte mit Schiffen 4 hineingebrachte Legionen über einen See. Nachdem er die Bructerer zerstreut hatte, fand er in der Beute den Adler, der 19. Legion wieder, die mit Varus ausgeschickt gewesen war. Von dort wurde das Heer an die Grenzen der Bructerer, nicht weit vom Teutoburger Wald, wo das tapferste Heer von allen durch die List der Feinde umzingelt und geschlagen worden war. Als es weder eine Möglichkeit zu kämpfen, noch zu entkommen hatte. Germanicus überkam aber das Verlangen, nachzuforschen, wo die Überreste des Varus und der 3 Legionen seien, um den Soldaten und ihrem Führer die letzte Ehre zu erweisen. Nachdem er Caecina zur Erkundung voraus geschickt hatte, betrat Germanicus Orte mit traurigem Anblick und schrecklicher Erinnerung. Mitten auf dem Feld waren die bleichenden Knochen der Soldaten, wie sie geflohen waren, wie sie im Kämpfen Wiederstand leisteten. Dabei lagen zerbrochene Waffen und die Gerippe ihrer Pferde, in den Bäumen aber waren die Schädel der Menschen. Als die Soldaten den nahegelegenen Wald betraten, um ihn zu untersuchen, wurden Altäre der Barbaren gefunden, bei denen die Tribunen und Centurionen getötet worden waren. Allerdings befanden sich im Heer diejenigen, die sich durch Flucht aus jener Niederlage gerettet hatten. Diese berichteten, daß hier die Legaten getötet worden seien, dort die Adler geraubt wurden. Einige erinnerten sich wo Varus die erste, wo er die zweite Verwundung erhalten hatte, wo er durch eigene Hand den Tod gefunden hatte. Daher bedeckte das römische Heer im 6. Jahr nach der bitteren Niederlage die Überreste von 3 Legionen mit Erde und Germanicus legte, weil er das Gedenken der Gefallenen waren wollte, das erste Rasenstück an. Diese Sache hieß Tiberius nicht gut und er tadelte Germanicus, weil er glaubte, daß die Kraft des Heeres gebrochen werde durch die Bestattung so vieler tausend Menschen.
Lektion 38
Während Germanicus noch in Germanien war, verbreitete sich das - wie gewöhnlich übertriebene - Gerücht, das Heer sei umzingelt worden; die meisten Soldaten, so hieß es, seien erschlagen und wenige übrig: Es sah also danach aus, als hätte man eine Niederlage, schwerer als die von Cannae, erlitten. Schon fürchteten die Menschen in größter Bestürzung, die Germanen wurden in hellen Haufen auf Gallien losmarschieren, schon versuchten sie, die Rheinbrücke abzubrechen. Und tatsächlich wäre die Brücke zerstört worden, wenn nicht Agrippina, die Frau des Germanicus, die verhängnisvollste Tat verhindert hätte. Denn diese Frau, die tapferer war als die meisten Männer, erfüllte während dieser Tage die Aufgaben eines Feldherrn aufs Beste: Sie ermutigte die Verstörten, sorgte für die Bedürftigen durch Geldspenden und verteilte unter die Soldaten, wenn einer mittellos war oder verwundet war, Kleidung und Verbandzeug. C . Plinitis der Ältere, der Historiker der Germanenkriege, berichtet, sie habe an der Brücke gestanden und habe den heimkehrenden Legionen gedankt. Daß Tiberius dies übelnahm, ist hinreichend bekannt. Denn da er stets lieber das Schlechtere als das Bessere annahm und vor dem Geringfügigsten Angst hatte, vermutete er, Agrippina wolle sich auf diese Weise die Zuneigung der Soldaten gewinnen und könne es auch ganz leicht. Er erinnerte sich auch, daß von ihr eine Meuterei niedergeschlagen worden sei, und ärgerte sich darüber, daß sie ihren Sohn im Lager herumtrug und darauf Wert legte, daß man ihn Caesar Caligula nannte. Daher drang Tiberius, der Germanicus schon in zahlreichen Briefen ermahnt hatte, nicht mehr Zeit zu verlieren und die Gelegenheit zur Feier eines Triumphs nicht verstreichen zu lassen schließlich energischer darauf, daß er nach Rom zurückkehrte. Auch Germanicus, der schon dabei war, neue Feldräge zu planen, verlängerte seinen Aufenthalt in Germanien nicht, obwohl er einsah, daß er aus Gehässigkeit nach Italien zurückbeordert wurde.
Lektion 39
Auf den Ackerbau legen die Germanen keinen großen Wert und der größte Teil ihrer Nahrung besteht aus Milch, Käse und Fleisch. Auch hat niemand eine bestimmte Menge Land oder eigenen Grundbesitz vielmehr weisen die Würdenträger und Häuptlinge für je ein Jahr ihren Stämmen die Felder zur Bestellung zu und zwingen sie im Jahr darauf, sich anderswohin zu begeben. Für diesen Brauch führen sie zahlreiche Gründe an: Damit nicht das Bestreben, Krieg zu führen verringert werde; damit sie nicht danach trachteten, ausgedehnten Grundbesitz zu erwerben und die Mächtigeren die kleinen Leute von ihren Feldern vertrieben; damit sie nicht ihre Häuser zu sorgsam bauten, um Kälte und Hitze zu meiden; damit kein Verlangen nach Geldbesitz entstehe, da ein jeder sehen könne daß sein Vermögen dem der Mächtigsten gleich sei. Es ist für die Stämme äußerst rühmlich wenn sie möglichst weit um sich, weil das Gebiet verwüstet ist, Einöden haben. Zugleich glauben sie, auf diese Weise sicherer zu sein. Raubzüge bringen niemandem Schande, sofern sie außerhalb des jeweiligen Stammesgebiets erfolgen, und sie behaupten sie fänden statt, um die jungen Leute zu ertüchtigen und dem Müßiggang zu wehren. Und sobald einer von den Häuptlingen in der Versammlung erklärt, er wolle der Anführer sein in dem geplanten Krieg versprechen diejenigen ihre Hilfe, die darauf aus sind, sich Ruhm oder Beute zu erwerben, und werden von der Menge gelobt. Die aber, die lieber daheim bleiben wollen, erfahren Tadel und Verachtung. Einen Gast zu verletzen halten sie für einen Frevel. Alle die, aus welchem Grund auch immer, zu ihnen kommen beschützen sie vor Unrecht und halten sie für unverletzlich, diesen stehen alle Häuser offen und man teilt sein Brot mit ihnen.
Lektion 40
Weihung für Fortuna
Der heiligen Göttin Fortuna haben das vor Alter eingestürzte Badehaus die Kundschafter und Offiziere der Brittonen aus eigenen Mitteln neu errichtet, wobei Titus Flavius Romanus, der Zenturio der 22. Legion, der Allerersten, Gewissenhaften und Treuen, Aufsicht führte. Am 13. August, unter dem Konsulat des Lupus und des Maximus.
Entlassungsurkunde
Der Kaiser Trajanus Hadrianus Augustus Cäsar, Sohn des vergöttlichten Trajanus, des Siegers über die Parther, und Enkel des vergöttlichten Nerva, der oberste Priester, im 18. Jahr seiner tribunizischen Amtsgewalt und in seinem 3. Konsulat, der Vater des Vaterlands, hat den Reitern und Infanteristen, die in der 1. Reiterabteilung und 15 Kohorten gedient, ihre 25 Dienstjahre abgeleistet haben und ehrenvoll entlassen sind (ihre Namen werden weiter unten aufgeführt), für ihre eigene Person, ihre Kinder und Nachkommen das Bürgerrecht verliehen sowie die vollgültige Ehe mit den Frauen, die sie damals hatten, als ihnen das Bürgerrecht verliehen wurde, bzw., wenn welche noch unverheiratet sein sollten, mit denen, die sie später heirateten, natürlich jeder nur eine. Am 15. Oktober unter dem Konsulat des Publius Licinius Pansa und des Lucius Attius Macer.
Grabschrift
Den Totengöttern. Lucius Aemilius, der Sohn des Lucius, aus der Tribus Claudia Crescens, ein Kölner, Soldat der 23. Legion, der Zwillingsschwester, Mars-Beschützten, Siegreichen, aus der Zentune des Valenus Bassus, verstorben im Alter von 33 Jahren, nach 13 Dienstjahren. L. Aemilius Mansuetus und L. Aemilius Albanus seine Brüder und Erben, haben dieses Grabmal errichten lassen.
Dankbare Schüler
Um die Erinnerung zu bewahren und lebendig zu halten an ihre Lehrer und Väter Justinian... und Nykteros haben Concordius und Hemenus, die staatlichen Opferschauer der Stadt Trier, diesen Denkstein errichtet.
Ermordet!
lucundus, der Freigelassene des Mareus Terentius, ein Viehzüchter. Wer immer dies im Vorbeigehen liest: Wanderer, bleib stehen und sieh, wie ich unwürdig dahingerafft vergeblich klage. Ich konnte nicht länger leben als 30 Jahre, denn ein Sklave entriss mir das Leben und stürzte sich selbst in den Strom. Ihm nahm der Main, was er dem Herin entriss.
Der ehemalige Herr (des Freigelassenen) hat aus eigenen Mitteln diesen Stein aufstellen lassen.
Ein Felsbild für Mithras
Dem unbesiegbaren Gott Mithras den gebärenden Felsen: Senilius Carantinus, ein Bürger aus dem Stamm der Mediomatriker, hat sein Gelübde froh und willig, wie es sich gehört, eingelöst.
Soldat und Christ
Hier liegt Emeterius, ein Zenturio aus der Zahl der Nichtrömer, der fünfzig Jahre lebte und mehr oder weniger 25 Jahre diente. Gott dem Herrn ergeben.
Lektion 41
Wer weiss nicht, dass ich von Jugend an die Gesetze und Gepflogenheiten meines Volkes befolgt und das Leben der Pharisäer geführt habe? Stets nämlich trachtete ich danach, Weisheit und Gerechtigkeit hochzuhalten und Frevler zu bestrafen. Aus diesem Grund war ich auch wütend auf die, ich trachtete ihnen sogar nach dem Leben, deren Lehre die Juden eine Irrlehre nennen. Ich jedenfalls hielt es für richtig, viel gegen den Namen des Jesus von Nazareth ins Werk zu setzen, und als ich in die Stadt Jerusalem kam, machte ich viele von den Heiligen (= den ersten Christen), die ich fassen konnte, zu Angeklagten und schloß sie in Kerkern ein; dort mußten sie großes Leid ertragen und kamen jämmerlich ums Leben. Wie sehr mich diese Sache nun beschämt und reut, dafür ist Gott mein Zeuge. Später begann ich, die Christen, um sie aufzuspüren und um sie verurteilen zu lassen, bis in andere Städte zu verfolgen, doch als ich nach Damaskus aufgebrochen war, sah ich, nicht viele Meilen von der Stadt entfernt am Mittag, wie mich und die, die mir folgen, auf der Straße vom Himmel Licht umstrahlte. Und als wir alle zu Boden gestürzt waren, hörte ich eine Stimme sprechen: ,,Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?" Verwundert über ein solches Wort fragte ich: ,,Herr, wer bist du?" Der Herr aber sprach: ,,Ich bin Jesus, den du verfolgst. Doch erhebe dich, denn ich werde dich zu meinem Diener machen!" Seit dieser Zeit nenne ich mich Paulus und befolge Christi Lehre und werde niemals einen Sturz und jenen Tag vergessen, an dem Christus selbst mit mir gesprochen hat."
Lektion 42
Die meisten der Glaubensbrüder baten Petrus, er solle für sich sorgen und aus Rom weggehen; er aber erwiderte: Es gehört sich nicht für einen wahren Christen, das Leben so hoch zu schätzen, dass er, ohne an das Leiden unseres Herrn zu denken, vor dem Leiden flieht." Sie aber flehten ihn unter vielen Tränen an und sprachen: ,,Sei unser eingedenk, Vater, und an den Teil der Jüngeren, die noch zu wenig Glaubensstärke haben. Ihnen allen liegt viel daran, dass du gesund bleibst. Daher begib dich auf die Flucht, damit du nicht umkommst!" Auch die Gefängniswärter, die ihre Pflicht reute, ermahnten ihn sehr: ,,Herr, geh, wohin du willst, weil wir glauben, dass der Kaiser dich bereits vergessen hat. Doch jener höchst ungerechte Agrippa, dessen Frau du mit dem Verlangen nach einem keuschen Leben erfüllt hast, arbeitet aus Liebe zu seiner Frau und aus Hass gegen dich einzig darauf hin, dass du zum Tode verurteilt und hingerichtet wirst." Als Petrus, ein Mann von höchstem Erbarmen, schließlich einsah, wie viel den Brüdern daran lag, dass er lebte, versprach er, sich in der nächsten Nacht früh genug auf den Weg zu machen. ,,Keiner von euch", sprach er, ,,soll mit mir kommen, damit es nicht so aussieht, als wisse er von meiner Flucht!" Er ermahnte die Brüder, seiner zu gedenken und den Mut nicht sinken zu lassen; dann verließ er den Kerker. Sobald er aber aus dem Stadttor getreten war, sah er, dass Christus ihm entgegenkam und fragte: ,,Herr, wohin gehst du?" Der aber: ,,Ich komme nach Rom, damit ich zum zweiten Mal gekreuzigt werde, weil du pflichtvergessen fliehst." Sogleich kehrte Petrus nach Rom zurück, wo er wegen Majestätsbeleidigung verurteilt wurde und das Martyrium erlitt.
Lektion 43
Gaius Plinius hatte, solange er die Provinz Bithynien leitete, die Gewohnheit, den Kaiser Trajan, der ihm besonders gewogen war, bei allen zweifelhaften Dingen um Rat zu fragen, was zu tun sei. Aus diesem Grund schrieb er, als ihm eine anonyme Liste vorgelegt wurde, die die Namen vieler Christen enthielt, dem Trajan etwa folgendes: ,,An Untersuchungen gegen Christen habe ich nie teilgenommen; daher weiß ich nicht, was man ihnen vorwirft und was ich entweder zu bestrafen oder herauszufinden habe. Auch war ich nicht wenig im Zweifel, ob es irgendeinen Unterschied für die Altersstufen gibt oder ob kein Unterschied gemacht werden soll zwischen Kindern und Erwachsenen (,,ob sich Zarte nicht von Stärkeren unterscheiden sollen"), ob man im Fall der Reue Verzeihung gewähren soll, ob es einem, der irgendwann ein Christ war, nicht Rettung bringt, dass er aufgehört hat, und ob die Zugehörigkeit selbst zu bestrafen ist oder die mit der Zugehörigkeit zusammenhängenden Schandtaten. Inzwischen folgte ich denen, die mir als Christen angezeigt wurden, an folgendes Verfahren: Ich fragte sie selber, ob sie Christen seien. Gaben sie es zu, fragte ich ein zweites und drittes Mal unter Androhung der Todesstrafe diejenigen, die bei ihrer Aussage blieben, ließ ich abführen. Ich hatte nämlich keinen Zweifel, dass, was immer es sein mochte, wozu sie sich bekannten, jedenfalls ihr Starrsinn bestraft werden müsse. Es gab andere von ähnlicher Verrücktheit, die ich, weil sie römische Bürger waren, zur Verschickung in die Hauptstadt vormerkte. Die aber, bestritten, Christen entweder zu sein oder gewesen zu sein, und die deinem Bildnis ihre Verehrung erwiesen, glaubte ich freilassen zu dürfen." Darauf antwortete der Kaiser folgendermaßen: ,,Du hast bei der Untersuchung der Fälle derer, die dir als Christen angezeigt worden waren, das Verfahren befolgt, das du befolgen mußtest. Sie sollen nämlich nicht von den Behörden aufgespürt werden. Falls man sie anzeigt und beschuldigt, sind sie zu bestrafen, jedoch in der Weise, dass derjenige, der erklärt, kein Christ zu sein, und das dadurch nachweist, das er unseren Göttern opfert, Verzeihung erhält, mag er sich auch in der Vergangenheit verdächtig gemacht haben. Anonyme Anzeigen aber dürfen bei keinem Vorwurf einen Platz haben: Wenn wir nämlich die annähmen, würden wir schlechtesten Beispielen folgen."
Lektion 44
Im Jahr 312 n.Chr. hatte Maxentius aus Haß und Abneigung Konstantin den Krieg angesagt. Und obwohl er sich selbst innerhalb der Mauern aufhielt, weil er ein Orakel befragt (,,gebraucht") und die Antwort erhalten hatte, er werde im Krieg umkommen, wenn er die Stadt verlasse, glaubte er sich vor Gefahr sicher und war voll guten Mutes, denn treue und geeignete Feldherrn, Männer von ausgezeichneter Kühnheit, führten die Sache für ihn. Außerdem war sein Heer viel größer als die Truppen Konstantins. Aber obwohl dieser an Zahl der Soldaten dem Maxentius nicht gleichkam, ließ er im Vertrauen auf göttliche Hilfe die Legionen näher an die Stadt heranrücken. Allerdings wußte er nicht, auf welchen von den Unsterblichen er seine Hoffnung setzen, von welchem er den Sieg erhoffen, welchem er Opfer geloben solle. Doch an dem Tag, an dem vor fünf Jahren M. die Herrschaft übernommen hatte, widerfuhr dem Konstantin etwas Wunderbares. Am Mittag, als er zufällig den Himmel betrachtete, sah er mit eigenen Augen ein Kreuz, das in hellem Licht erstrahlte, und dabei geschrieben folgende Worte: ,,Damit siege!" Diese Sache glaubte Konstantin nicht mißachten zu dürfen; daher ließ er sogleich die Schilde seiner Soldaten mit dem Zeichen des Kreuzes bezeichnen und zog gegen den Feind. Schon stoßen die Heere in gleicher Front zusammen, schon wird mit höchster Kraft gekämpft, schon wenden sich die Feinde zur Flucht und suchen in raschestem Lauf die Stadt zu erreichen, als Maxentius, bedrängt von der Menge der Flüchtenden, von der Brücke gestoßen wird und in den Tiber stürzt. Als der Krieg, der viel Blut gekostet hatte beendet war, wurde Konstantin unter höchster Freude des Senats und des römischen Volkes in Rom aufgenommen.
Lektion 45
Dies, so schrieb der heilige Benedikt, ein Mann von höchster Frömmigkeit und höchstem Ansehen, seien die Aufgaben der Mönche: Gott den Herrn lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit ganzer Tüchtigkeit, und dann den Nächsten wie sich selbst. Alle Menschen ehren. Arme und Bedürftige erquicken, den Nackten kleiden, den Schwachen besuchen, den Toten begraben, den Trauernden trösten. Die Wahrheit mit Herz und Mund bekennen. Nicht Böses mit Bösem vergelten. Unrecht nicht tun, sondern, auch wenn es einem zugefügt wird, es geduldig ertragen. Seine Feinde lieben. Verfolgung leiden für die Gerechtigkeit. Den Tag des Jüngsten Gerichts fürchten. Den Tod täglich vor Augen haben. Seinen Lebenswandel zu jeder Stunde überwachen. Sich gewiss sein, dass Gott einen an jedem Ort sieht. Nicht gern viel reden. Nichtige Worte nicht von sich geben. Nicht schwören. Keinen Neid üben. Niemanden hassen. Die Älteren verehren und die Jüngeren lieben. In Christi Liebe für seine Feinde beten. Sich mit einem Streitenden vor Sonnenuntergang versöhnen. Seine vergangenen bösen Taten unter Tränen täglich im Gebet Gott bekennen. Die Begierden des Fleisches nicht erfüllen. Den eigenen Willen hassen. Den Weisungen des Abts in allem gehorchen, auch wenn er selbst, was ferne sei, sich anders verhält, im Gedanken an jenes Gebot des Herrn: ,,Was sie sagen, das tut, was sie aber tun, das tut nicht."
Lektion 46
Der Kaiser und der Kalif
Karl mehrte auch den Ruhm seiner Herrschaft dadurch, dass er bestimmte Könige und Völker sich in Freundschaft verband. Mit Harun, dem König der Perser, der mit Ausnahme Indiens fast das ganze Morgenland beherrschte, hatte er in der Freundschaft solche Eintracht, dass dieser seine Freundschaft der aller Könige und Fürsten, die auf der ganzen Welt waren, vorzog und meinte, er müsse allein jenen durch Ehre und Gaben verehren. Als nämlich Abgesandte Karls, die er mit Geschenken zum Grab unseres Herrn gesandt hatte, zu ihm kamen und ihm den Wunsch ihres Herrn mitteilten, gestattete er nicht nur, dass geschah, was verlangt wurde, sondern trat ihnen auch jenen heiligen Ort ab. Und als die Gesandten heimkehrten, fügte er die Seinen hinzu und gab jenem neben Gewändern und Gewürzen und den übrigen Schätzen der östlichen Länder ungeheure Geschenke, nachdem er ihm vor ein paar Jahren auf seine Bitten hin den einzigen Elefanten, den er damals besaß, geschickt hatte.
...nur Schreiben fiel ihm schwer
Karl war von großer Beredsamkeit und konnte alles, was er wollte, auf das klarste ausdrücken. Und nicht mit seiner Muttersprache zufrieden, bemühte er sich auch darum, Fremdsprachen zu erlernen. Von diesen lernte er die lateinische so, dass er sie gewöhnlich ebenso geläufig sprach wie seine Muttersprache. Das Griechische aber konnte er besser verstehen als er es sprach. Die Freien Künste (d.h. die sieben klassischen Unterrichtsfächer) pflegte er mit großem Eifer und erwies ihren Lehrern große Ehren. Beim Erlernen der Grammatik hörte er den alten Petrus aus Pisa, in den übrigen Fächern hatte er Alkuin, ebenfalls einen Hilfsgeistlichen, einen Menschen von sächsischer Abkunft (einen Angelsachsen) aus England, einen hochgebildeten Mann, zum Lehren. Bei diesem verwandte er auf das Erlernen der Rhetorik und Dialektik, besonders aber der Astronomie, sehr viel Zeit und Mühe. Er versuchte auch zu schreiben und trug gewöhnlich Schreibtäfelchen bei sich, um, wenn er freie Zeit hatte, Buchstaben nachzumalen, doch dieses zu spät begonnene Unternehmen ging zu wenig voran.
Lektion 47
Ich werde zunächst von erstaunlichen Werken der Kunst und der Natur berichten, um später deren Ursachen und Art zu erklären; bei diesen ist nichts Magisches im Spiel, dass es Nicht zeigt, wie jede Zauberkraft diesen Schöpfungen unterlegen und ihrer unwürdig ist. Denn es können Geräte für die Seefahrt entwickelt werden, die keine Ruderer benötigen, so dass gewaltige Schiffe, während ein einziger Mann sie steuert, mit größerer Geschwindigkeit dahinfahren, als wenn sie voller Leute wären. Desgleichen können Wagen so gebaut werden, daß sie ohne Zugtier mit unglaublichem Schwung bewegt werden. Desgleichen können Fluggeräte so entwickelt werden, dass ein Mensch mitten im Gerät sitzt, der irgendeine Maschine bedient, mit deren Hilfe künstliche Flügel die Luft schlagen nach Art eines fliegenden Vogels. Es können auch Geräte gebaut werden, um im Meer oder in Flüssen zu Fuß zu gehen; denn schon Alexander der Große hat diese benutzt, um die Geheimnisse des Meeres zu sehen. Diese Dinge sind aber sowohl in den alten wie in unseren Zeiten geschaffen worden, abgesehen von dem Fluggerät, das ich nicht gesehen habe; ich kenne auch keinen Menschen, der es gesehen hätte. Doch viel von der Au kann gemacht werden, wie zum Beispiel pfeilerlose Brücken über Flüsse und unerhörte Maschinen.
Lektion 48
Ein strenger Lehrer
Ich hatte einen Lehrer, der ein ausgezeichneter Grammatiker war. Er führte mich an die Grammatik heran, und er führte mich so, dass ich Satzbaupläne machte. Er zwang mich, die Regeln des Satzbaus an zwanzig oder dreißig Vergilversen wiederzugeben. Nichts ließ er mich übergehen. Wenn ich mich irrte, verabreichte er mir Schläge, aber doch mit der Zurückhaltung, die angebracht war. So machte er mich zum Grammatiker. Er war ein sehr tüchtiger Mann und hatte mich lieb wie seinen Sohn, und ich ihn wie meinen Vater. Ja, jener wurde von mir geliebt, obwohl er so streng war (diese Strenge zeigte/gebrauchte). Indes war es keine Strenge, sondern eine väterliche Züchtigung, die mich zur Gründlichkeit anhielt. Abends wurde ich gezwungen, mir die Regeln anzueignen, damit ich sie aufsagen konnte. Ihr seht, dass der Unterricht strenger war als er jetzt ist.
Literatur und Bildung
Es liegt nicht wenig daran, an welcher Art von Literatur sich die jungen Leute bilden, sowohl aus vielen anderen Gründen als ganz besonders deshalb, weil nichts wirksamer ist, die geistigen Fähigkeiten und den Charakter der Menschen zu verändern, als literarische Werke. Denn fast stets ist ein jeder so, wie ihn sein Bildungsgang formt, und kein Werk der Literatur scheint mir gut außer denen, die guten Geistes sind. Daher ist es besser, die Jugend an den besten Schriften zu bilden, denn den besten Charakter bringen die besten Bücher. So bleibt also übrig, ihr jungen Männer, dass ihr euch etwas zutraut, wiewohl die Sache sich so verhält, dass schwierig ist, was schön ist. Trotzdem wird euer Fleiß mit der Schwierigkeit so fertig werden, dass ich hoffe, ihr werdet euch mit weitaus geringerer Anstrengung das Gute aneignen als das Schlechte.
Lektion 49
Das aber ist von allem das Widersinnigste: In beiden Lagern, in beiden Heeren funkelt das Kreuzeszeichen, in beiden feiert man Gottesdienste. Ich möchte wissen, warum bei diesen Feiern ein Soldat das "Vater unser" betet. Du hartherziger Mensch, du wagst Gott Vater zu nennen, der du deinem Bruder nach dem Leben trachtest? ,,Geheiligt werde dein Name!" Auf welche Weise konnte der Name Gottes mehr entheiligt werden als durch derartige Aufruhr unter euch? ,,Dein Reich komme!" So betest du, der du mit so viel Blut deine tyrannische Herrschaft festigst? ,,Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden!" Frieden will jener, und du rüstest zum Krieg? ,,(Unser) Tägliches Brot" verlangst du vom gemeinsamen Vater, der du die Felder deines Bruders verwüstest und es lieber hast, dass sie auch für dich zugrunde gehen, als dass sie jenem nützen? Mit welchem Gedanken aber wirst du sprechen: ,,Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!" - Du, der du es eilig hast, deine Brüder umzubringen. Du bittest darum, die Gefahr der Versuchung von dir abzuwenden, der du unter deiner Gefahr den Bruder in Gefahr bringst? ,,Vom Bösen" willst du befreit werden, unter dessen Einwirkung du deinem Bruder das höchste Übel bereiten willst?
Lektion 50
Wenn ich oft bei mir die Taten unserer Ahnen und anderer Könige und Völker bedenke, scheinen mir die unseren nicht nur durch die Ausdehnung ihrer Herrschaft, sondern auch ihrer Sprache alle übrigen übertroffen zu haben. Denn es steht zwar fest, dass die Perser, Meder, Assyrer und viele andere weit und breit Macht errungen und ihre Herrschaft lange behauptet haben. Aber keine haben ihre Sprache so verbreitet, wie es die unseren taten, die fast über das ganze Abendland, den Norden und keinen geringen Teil Afrikas die lateinische Sprache gewissermaßen zur Königin machten und, was die Provinzen selbst angeht, sozusagen als bestes Saatgut zur Aussaat anboten. Dieses Werk ist ohne Zweifel bei weitem rühmlicher als die Ausdehnung der Herrschaft selbst. Denn diejenigen, die ihre Macht mehren, ehrt man gewöhnlich hoch und nennt sie Herrscher. Diejenigen aber, die den Menschen irgendwelche Wohltaten erwiesen haben, werden nicht mit menschlichem, sondern göttlichem Lobpreis ausgezeichnet, da sie nicht nur für den Ruhm ihrer eigenen Heimatstadt sorgen, sondern auch für den allgemeinen Nutzen und das Wohlergehen der Menschen. Darum haben unsere Vorfahren durch ihre Kriegstaten die übrigen Menschen übertroffen, aber durch die Ausbreitung ihrer Sprache sich selbst. Wird es etwa, wenn Ceres, weil sie das Getreide, Bacchus, weil er den Wein, Minerva, weil sie die Künste erfand, unter die Götter versetzt wurden, weniger gelten, die lateinische Sprache in der Welt verbreitet zu haben?